Ich höre in letzter Zeit immer wieder, dass Merkel ine Lücke in der Mitte hinterlassen hat und wir Grüne die füllen.
Funktioniert das? Eine paar Überlegungen.
2-Parteien-System vs. Mehrparteiensystem
Die Theorie der Mitte kommt so wie ich das verstanden habe primär aus dem 2-Parteien-System. In den USA, wo es primär um Demokraten oder Republikaner geht (ähnlich aber auch in Großbritannien und anderen Ländern), da macht dieser Ansatz Sinn, weil wenn man annimmt, „alles links von uns wählt uns eh, das heißt, wir müssen um die in der Mitte kämpfen“, dann übernimmt die „linke“ Partei immer mehr mitte-rechts-Forderungen und analog die „rechte“ Partei immer mehr mitte-links-Forderungen, da diese Mitte-Wähler die Wahl entscheiden. Das funktioniert aber auch selbst da nur eingeschränkt, denn dann fühlen sich auch immer mehr Wähler der eigenen Klientel nicht mehr abgeholt und wählen dann doch unbedeutende Kandidaten oder gar nicht. Aktuelles Beispiel bei der US-Wahl, bei der Kamala Harris gegenüber Joe Biden vor 4 Jahren gut 10 Mio Stimmen verloren hat. (81 vs. 71 Mio Wähler*innen).
In einem Mehr-Parteien-System funktioniert das erst recht nicht, weil sich dann bei öffnenden Lücken neue Parteien gründen oder dann stark werden. Bei der EU-Wahl haben wir Grünen z.B. Konkurrenz von Volt (2,6%), Tierschutzpartei (1,4%) und ödp (1,0%) gespürt.
D.h. je mehr man in die Mitte rückt, desto mehr gibt man die eigentliche politische „Heimat“ auf und da findet sich jemand neues.
Ist die Mitte frei?
Die Theorie sagt ja immer, wenn sich die CDU/CSU seit Merkel nach rechts bewegt, dann ist da eine Lücke, die wir nutzen können. Die „Mitte“. Aber ist da wirklich Platz. Ich sehe ihn nicht, weil sowohl die Union natürlich auch probiert, die Mitte zu halten, die SPD da irgendwo mitspielt, die FDP …. alle probieren doch einen Fuß in der Mitte zu haben und einen Fuß bei ihrem Heimspiel. Also so richtig Platz sehe ich nicht.
Welche Auswirkungen hat es auf Inhalte?
Es gibt sogenannte Diskursverschiebungen. D.h. je klarer die Forderungen sind und desto heftiger sie vorgetragen werden, desto mehr bewegt sich der Diskurs in die Richtung und desto normaler wird das Thema angesehen.
Vor paar Jahren waren Abschiebungen und Obergrenzen etwas fast unsagbares, heute wird das selbst in Grünen Papieren genutzt.
Umgekehrt, Homoehe, jahrzehntelang für viele Konservative ein rotes Tuch. Wir sind dran geblieben. Irgendwann musste Merkel das Thema „abräumen“ (=zustimmen), um nicht die Bundestagswahl zu verlieren.
Energiewende: Wir blieben jahrelang dran, das EEG wurde zwar von anderen Regierungen „klein“ gemacht, aber nie ganz abgeschafft. Das traut sich dann doch keiner mehr.
Das heißt, wenn man Inhalte durchsetzen will, muss man sie auch klar einfordern. Da hilft es nicht, mit dem, wo eh schon alle Zustimmen wollen, in die Verhandlungen gehen. Man muss schon eine Stimmung aufbauen, dass etwas wichtig ist. Und da sind große Visionen hilfreicher als minimale Schritte.
Was sagen die Wahlergebnisse und Umfragen? Was machen die Wähler?
Hier wird es schwierig, weil ja die Argumentationen in 2 unterschiedliche Richtungen laufen. Die einen sagen „Wir müssen ja noch richtig in die Mitte gehen, dann wird es wieder besser.“ Meine Interpretation ist jedoch eine andere. Wir haben in der Bundesregierung bei zig Kompromissen mitgemacht. Wir sind schon massiv in die Mitte gegangen. Hoch gingen die Zahlen nicht, ganz im Gegenteil, sie gingen runter. Aber auch dafür gibt es zig Interpretationen.
Und umgekehrt, wir sagen ja alle, dass die Union sich nach rechts bewegt hat. Aber deren Zahlen sind seit der letzten Bundestagswahl wieder enorm angestiegen.
Meine persönliche Interpretation ist, dass es eher nicht hilft, sich in einer schwammigen Mitte zu bewegen, sondern es mehr Hilft, klar Kante zu zeigen.
Das Problem ist ja, wie oben beschrieben, dass es eine Diskursverschiebung gibt und die Mitte dann auch nach rechts rückt. D.h. man kann zwar ganz wenig „stabile“ Wähler gewinnen, die große Mehrheit driftet aber mit.
Und am Ende wird dann doch lieber das Original gewählt. Wenn wir jetzt CSU-Forderungen übernehmen, werden wir damit kaum einen CSU-ler überzeugen, dass er GRÜN wählt.
Und was ist mit Koalitionen?
Natürlich, in Koalitionen muss man Kompromisse machen. Aber daher muss man immer folgende Sachen im Blick behalten:
- Wo wollen wir wirklich hin? Dazu braucht man klar formulierte Visionen.
- Was sind mögliche Schritte dort hin? Da kann man in einer Koalition durchaus mal auch ganz kleine Schritte gehen. Kompromisse eingehen gehört dazu.
- Was geht in die falsche Richtung? Selbst das muss man in Koalitionen in geringem Umfang hinnehmen. Hier muss man aber schauen, dass es in Summe in die richtige Richtung geht und keine rote Linien überschritten werden.
Sind denn ur-grüne und linke Themen mehrheitsfähig?
Ich denke schon.
- Soziale Sicherheit: Kann ich mir das Mittagessen am Ende des Monats noch leisten? Wie sollte Reichtum verteilt sein?
- Integration: Wie schaffen wir es, dass wir alle integrieren, sowohl in die Gesellschaft, als auch in das Erwerbsleben? Es sollen alle zur Gesellschaft beitragen, so gut sie können, aber keiner abgehängt werden.
- Klimaschutz: Hier stehen 2 Fragen im Raum, die eine nach dem Klimaschutz selber, der ja Konsens halbwegs konsens ist (solange er nichts kostet), aber die viel spannendere Frage ist ja, was der finanziell kostet und was er wirtschaftlich bringt. Und es zeigt sich immer mehr, dass dies DAS Wirtschaftsthema der nächsten 30 Jahre werden könnte. Wer beim Klimaschutz vorne ist, kann seine Technologien verkaufen. Das braucht noch viel Kommunikation, aber mehrheitsfähig wäre das ganz sicher.
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Fazit
Ich halte das massive streben in die Mitte für doppelt falsch.
Einerseits glaube ich nicht, dass man damit signifikant Wähler gewinnen kann. Ganz im Gegenteil, wir werden sie eher verlieren.
Andererseits unterstützen wir damit eine Diskursverschiebung in die falsche Richtung. Das führt dazu, dass selbst wenn wir mit guten Prozenzen in einer Regierung wären, kaum was von unseren eigentlichen Zielen durchsetzen können, weil die Mitte soweit nach rechts gerückt ist, dass wir dann einen ganz anderen „Aktionsspielraum“ haben.
Daher bin ich dafür, dass wir uns der Mitte nicht verschließen, aber doch bei klaren grünen Inhalten bleiben und dazu stehen.